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Europas Wiederbelebung: Was Mario Draghis Plan für die Wissenschaft bedeutet

Mario Draghi bei der Übergabe seines Berichts an EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen.

Mario Draghi bei der Übergabe seines Berichts an EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen.
Bildquelle: © European Union, 2024/Aurore Martignoni

News vom 20.09.2024

I Die Diagnose

Wachstum – oder Siechtum? Das ist die Wahl, vor der Europa steht. Jedenfalls wenn man den schonungslosen Bericht zur Wettbewerbsfähigkeit der EU liest, den der frühere EZB-Chef Mario Draghi im Auftrag von Kommissionspräsidenten Ursula von der Leyen verfasst hat. Nur wenn wir wachsen, werden wir bewahren können, was uns schützenswert ist: Klima, Sozialsysteme, Sicherheit, Demokratie, Souveränität. Doch Europa wächst schon länger nicht mehr richtig, wir fallen immer mehr hinter China und die USA zurück. Aus dieser selbstverschuldeten Stagnation will Draghi die EU herausführen. Sein Bericht ist das Drehbuch zu einer Gegenrevolution, verfasst mit technokratischer Präzision, das von Energiemärkten bis zur EU-Governance reicht. Und mitten drin: Ein wuchtiges Plädoyer für mehr und für andere Forschungsförderung in Europa – exzellenter, wirkungsvoller, schneller, mutiger.

 

II Die Gegenmaßnahmen

Europas Wachstumsschwäche, so Draghi, ist im Kern eine Innovationsschwäche. Lionel Barber, Ex-Herausgeber der Financial Times, fasst es so: „America innovates, China replicates, Europe regulates“. Europa hänge insbesondere bei den Technologien der Zukunft hinterher. Um diesen Innovation Gap zu schließen, will Draghi Europa umbauen, whatever it takes. Dazu zählt neben vielem anderen auch die Brüsseler Forschungsförderung. Eine Auswahl vier besonders wichtiger Transformationspakete:

1.       Budget verdoppeln: Draghi fordert, die Mittel für das nächste EU-Forschungsrahmenprogramm (FP 10), also der Nachfolge von Horizon Europe, zu verdoppeln: auf 200 Milliarden Euro.

 

2.       Absolute Weltspitze in der Forschung: Die europäische Innovationsschwäche resultiert für Draghi auch daraus, dass zu wenige Institutionen in der EU zur absoluten Weltspitze in der Wissenschaft gehören. Die globalen Toptalente entscheiden sich noch zu oft für andere Standorte. Dagegen setzt er auf einen dreifachen Exzellenz-Boost: (1) Das Budget für den Europäischen Forschungsrat (ERC), Europas Flaggschiff zur Förderung von Spitzenforschern, verdoppeln; (2) einen „ERC for institiutions“ schaffen, also eine europäische Exzellenzinitiative auf Institutionenebene; (3) und über EU-Spitzenprofessuren („EU Chairs“) mit Top-Gehältern Top-Forscher gewinnen.

3.       Fokussieren, verzahnen, entschlacken: Die EU-Forschungslandschaft ist zersplittert in ein Neben- und Durcheinander von lokaler, nationaler und europäischer Ebene. Dagegen setzt Draghi eine „Research and Innovation Union” mit abgestimmten Strategien der Mitgliedsstaaten, etwa bei Forschungsinfrastrukturen. FP 10 will er entschlacken: statt vieler kleinteiliger, verpuffender Maßnahmen lieber weniger – aber die dafür mit Durchschlagskraft.

4.       Europäische DARPA: Draghi will eine „ARPA-type agency” schaffen, nach dem Vorbild der legendären amerikanischen Innovationsagentur, die high-risk / high-reward Projekte fördert. Dabei soll es sich allerdings bewusst um keine neue, zusätzliche Institution handeln, sondern um eine Umwandlung des Europäischen Innovationsrats (EIC).

III Die Probleme

Draghis Bericht wurde ein Weckruf genannt, eine große Chance, eine lohnende Lektüre – und er ist alles drei. Er steckt voller ambitionierter Vorhaben, in politikfähige Einzelmaßnahmen runtergebrochen. Und er denkt ganzheitlich, fordert etwa nicht isoliert „mehr Transfer“, sondern nimmt die ganze Innovationspipeline in den Blick, von der Forschung bis zum Startup. Selbst wenn nur ein Teil der Vorhaben käme, Europa würde als Forschungs- und Innovationsstandort massiv gestärkt. Nicht zuletzt: Die forschungspolitischen Vorhaben bieten gerade für Deutschland große Chancen.

Die größte Herausforderung ist weniger der Inhalt des Berichts, sondern der innere Zustand der EU. „Mehr Europa wagen“ war selten so schwierig wie heute. Deutschland und Frankreich sind nach populistischen Wahlerfolgen im innenpolitischen Krisenmodus - wo soll da die Kraft für eine radikale Europa-Reform herkommen? Die Migrationsfrage samt Wiedereinführung von Grenzkontrollen birgt das signifikante Risiko einer Renationalisierung. Und auch die Finanzierungsfrage birgt Sprengkraft: Deutschland und die Niederlande haben erklärt, für Gemeinschaftsschulden nicht zur Verfügung zu stehen.

 

IV Der nächste Schritt                                                                                   

Doch es wäre fatal, einfach zur Tagesordnung überzugehen. Niemand hat dies klarer formuliert als der französische Präsident Emmanuel Macron, im April dieses Jahres in seiner großen Rede an der Sorbonne: „Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass unser heutiges Europa sterblich ist. Europa kann sterben.“ Nur wenn Europa zu einer neuen ökonomischen, technologischen und verteidigungspolitischen Ernsthaftigkeit bereit sei, nur dann könne der Absturz in die globale Zweit- oder gar Drittklassigkeit verhindert und politische Souveränität gesichert werden. Macrons Worte mögen pathetisch klingen, falsch werden sie dadurch nicht. Ideen, wie Europa zu neuer Stärke entfesselt werden kann, liefert Draghi zuhauf. Bald beginnt die Amtszeit der nächsten EU-Kommission. Von der Leyen hat bereits erklärt, den Bericht sehr ernst nehmen zu wollen. Jetzt muss sie die Mitgliedsstaaten überzeugen. Für Forschung und Innovation, für Europa und für Deutschland wären das wirklich gute Nachrichten.

 

Autor: Dr. Jan Wöpking, Geschäftsführer von German U15

Veröffentlichung im Wiarda-Blog, 18. September 2024

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